Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck zum Festakt anlässlich 250 Jahre TU Bergakademie Freiberg
Freiberg, 21. November 2015
Viktor von Bülow, uns allen besser bekannt als Loriot, beschwerte sich in seiner Festrede zum 100. Geburtstag der Berliner Philharmoniker 1982 noch darüber, dass die Veranstalter es nicht für nötig erachtet hätten, auch nur ein Gründungsmitglied des Orchesters zur Feierstunde herbeizuschaffen. Ich bin erfreut, dass der technologische Fortschritt es inzwischen möglich macht, über Missstände dieser Art wenigstens hinwegzutäuschen.
Nun gehört Abraham Gottlob Werner zwar nicht zu den Gründern der Bergakademie Freiberg, aber man darf wohl sagen, dass er ihren Ruhm begründet hat. Er muss ein faszinierender Mensch und Lehrer gewesen sein. Sein Geist jedenfalls ist auch nach bald 200 Jahren immer noch lebendig. Welche Hochschule kann schon mit dem Begründer der Lehre aufwarten, für die sie steht. Die Bergakademie Freiberg kann es: Abraham Gottlob Werner stand am Anfang der Entwicklung nicht nur dieser Lehreinrichtung, sondern auch einer wissenschaftlichen Disziplin. Aber mehr noch, er wies der Geologie oder Geognosie, wie sie zu seiner Zeit noch genannt wurde, die Richtung. Er stand exemplarisch für den Entdeckergeist des späten 18. Jahrhunderts. Ein Geist, der das Licht der Aufklärung auch in die Regionen unter Tage bringen wollte. Anders ist es kaum zu erklären, dass Werner als Inspirator der Entdecker seit zwei Jahrhunderten immer wieder in der deutschen Literatur auftaucht, mit Gastauftritten bei seinem Zeitgenossen Johann Wolfgang von Goethe, später bei Thomas Mann und in unseren Tagen bei Daniel Kehlmann.
Spätestens damit haben die Bergakademie und ihre Geschichte auch mein Interesse geweckt. Der Bergbau und seine Nachbardisziplinen sind, wie Sie sich denken können, kein Thema, mit dem ein Bundespräsident tagtäglich befasst ist. Das Interesse an einem Gegenstand aber wächst mit dem Wissen darüber. Es ist schlicht faszinierend zu lernen, wie sich aus dem Bergbau und dem Montanwesen heraus immer wieder neue, zukunftsfähige Wissensstränge und Technologien entwickelt haben, die bis heute maßgeblich zum Wohlstand unseres Landes beitragen. Es ist bemerkenswert, wie die Erben einer alten und vielfach totgesagten Branche immer wieder neue Antworten auf die Fragen der Gegenwart finden – sei es bei der Kohlevergasung, in der Halbleiterforschung oder beim Recycling. Das ist ein Musterbeispiel für Wandlungs- und Modernisierungsfähigkeit, wie wir sie uns überall in Deutschland wünschen.
Und schließlich bin ich beeindruckt, welche Geistesgrößen mir in Freiberg begegnen. Ich nenne nur Alexander von Humboldt und Novalis. Beide unterrichtete Abraham Gottlob Werner – er beeinflusste, faszinierte und er provozierte sie. Vor allem aber traktierte er sie nicht mit abstrakt aufbereitetem Lernstoff, sondern weckte ihr Interesse am Gegenstand. Er lehrte sie, in Berg und Stein zu lesen wie im Buch der Natur. Dafür waren beide bereit, täglich mehrere Stunden unter Tage zu verbringen.
Als Humboldt 1791 an die Bergakademie kam, galt sie weit über Deutschland hinaus bereits als führende Forschungs- und Ausbildungsstätte. Hier war damit begonnen worden, die Erforschung erdgeschichtlicher Prozesse auf eine empirische Basis zu stellen. Diese Arbeit lockte Studenten aus ganz Europa nach Sachsen. Es entstand ein kontinentaler Streit über die Frage, wie Gesteinsformationen entstanden waren – und mittendrin die Bergakademie Freiberg. Sie war, wenn man so will, eine Elite-Hochschule des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, mit einem streitbaren Geist an der Spitze.
Eigentlich war die Bergakademie die Gewinnerin einer Krise. Sie entstand, weil der sächsische Staat – fast bin ich versucht zu sagen – Kohle brauchte. Er war durch Misswirtschaft und Verschwendungssucht, vor allem aber durch den Siebenjährigen Krieg ruiniert und suchte nach Geld, um den Wiederaufbau zu finanzieren. Die Bergakademie in Freiberg war ein wesentlicher Teil dieser bemerkenswerten Aufbauleistung. Fortan waren es vor allem zwei Quellen, aus denen sich Sachsens Wohlstand speiste: Materie und Geist. Der Bergbau erschloss die Rohstoffe, der Mensch machte sie nutzbar. Gelingen konnte der Plan nur im Zusammenspiel beider Kräfte.
Wer sich schon vor 250 Jahren mit der Frage befasste, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist auch heute um keine Antwort verlegen. Auf die Herausforderungen der Zeit reagiert man in Freiberg mit Entdeckergeist und Innovationen – damals wie heute. Wo im Jahre 1811 die erste Gasbeleuchtung auf dem europäischen Kontinent gebaut wurde, da forscht man heute an Technologien für die Zeit nach dem Erdöl. Wo einst die chemischen Elemente Indium und Germanium entdeckt wurden, da entwickelt man heute sogenannte Supermaterialien. Was Sie hier erforschen, wissen Sie selbstverständlich selbst am besten. Ich will Sie nicht mit laienhaften Ausführungen über Ihre Arbeit langweilen.
Ein Beispiel hat mir aber doch so imponiert, dass ich es nennen möchte: Ihr neues Verfahren zum Recycling von Seltenen Erden – kostbare Rohstoffe, die zum Teil mit unseren ausrangierten Smartphones, Leuchtstoffröhren und Computerbildschirmen millionenfach im Sondermüll landen. Das ist nicht nur Wissenschaft mit praktischem Nutzen, nicht allein ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell.
Die Wiederverwertung wichtiger Rohstoffe hilft sicherzustellen, dass Ressourcen langfristig verfügbar bleiben. Mehr Recycling trägt dazu bei, den oft problematischen Begleitumständen der Rohstoffgewinnung zu begegnen. Seien es gewaltsame Konflikte, die um Rohstoffvorkommen in Teilen der Welt ausgetragen werden oder Umweltschäden, die bei der Förderung entstehen können. Auch an Verfahren zum Recycling sogenannter Konfliktmineralien wie Zinn und Tantal arbeiten die Forscher der TU Freiberg. Ich bin dankbar dafür, dass verschiedenste Aspekte hier in Freiberg zusammengeführt werden.
Die Bergakademie Freiberg war von allem Anfang an Ressourcen-Universität. Den Denkern und Lenkern dieser Hochschule ist dabei schnell klar geworden, dass die Ressourcen in ihrer Nachbarschaft kein unerschöpflicher Quell sind. Deshalb dachte man in Sachsen früher als andernorts über Nachhaltigkeit nach. Ja, auch der Begriff der Nachhaltigkeit selbst wurde hier erfunden, und zwar von Hans Carl von Carlowitz, dem Oberberghauptmann des Erzgebirges. Er hatte damals den Holznachschub zu organisieren, damit der unterirdische Steinkohlebergbau voranschreiten konnte. Carlowitz nahm schon vor 300 Jahren vorweg, was bis heute Studentinnen und Studenten motiviert und worüber hier auch heute noch geforscht und nachgedacht wird: wie wir mit der Endlichkeit natürlicher Ressourcen umgehen. Seit 2003 wird an der Bergakademie auch ein Preis vergeben, der seinen Namen trägt, für herausragende Leistungen im Bereich der Umweltforschung.
Aber die Ressourcen-Universität denkt weiter. Sie schreibt die Idee der Nachhaltigkeit ins 21. Jahrhundert fort. Sie will wissen, wie sich das Konzept auf nicht nachwachsende Rohstoffe anwenden lässt. Das Ziel heißt: geschlossene Stoffkreisläufe. Wer diese Ressourcenwende schafft, wird ein Menschheitsproblem lösen. Eine Vision, an der es sich gewiss zu arbeiten lohnt. Das mag Zukunftsmusik sein, aber Sie wissen ja, meine Damen und Herren, Zukunft hat in Freiberg Tradition.
Zu dieser Tradition gehört es, die Ressourcen nicht nur im Gestein zu sehen. Sie haben hier in Freiberg ein wunderbares Motto. Es lautet: „Die Ressourcen in sich selbst suchen“. Dahinter steht das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, in die Kraft des Individuums. Dahinter steht die Fähigkeit des Menschen, die eigenen Potentiale zu entfalten. So gelingt es Ihnen, hier klugen Köpfen Raum zu geben.
Das alles kann aber nur gelingen, wenn das Vertrauen in die Kraft des Einzelnen gepaart ist mit der Erkenntnis, dass Wissen und Fortschritt am Ende nur in Zusammenarbeit mit anderen entstehen können. Übersetzt in den Jargon unserer Tage heißt das: Vernetzung und Internationalisierung. Es geht ja nicht nur um eine Anhäufung von Wissen. Es geht auch um den Austausch zwischen Fächern und Disziplinen, zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, zwischen Menschen in allen Teilen unserer Einen Welt. In diesem Sinne verstehe ich Ihre Initiative des Weltforums der Ressourcen-Universitäten für Nachhaltigkeit, die Sie zusammen mit Ihren Kollegen von der Hochschule für Bergbau in St. Petersburg ins Leben gerufen haben. Ich bin froh, dass Sie diese Kontakte nach Russland auch heute pflegen, und zwar weil es Ihnen wissenschaftlich sinnvoll erscheint, und nicht, weil es Ihnen – wie in Zeiten der DDR – im Namen der sogenannten „Völkerfreundschaft“ aufgetragen wird.
Wir sollten uns immer daran erinnern: Schon zu den ersten Studenten in Freiberg zählten Ausländer. Russen übrigens, und sie spielten eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Akademie. Seit ihrer Gründung ist die Bergakademie eine internationale Einrichtung und unterhält heute gute Verbindungen in alle Himmelsrichtungen und auf alle Kontinente.
Die Bergakademie Freiberg kann stolz sein auf ihre internationale Ausstrahlung – in der Geschichte wie in der Gegenwart. Eine solche Ausstrahlung ist kein Zufall. Sie gedeiht dort, wo Weltoffenheit, Freiheit des Denkens, Mitmenschlichkeit und Gastfreundschaft herrschen. Das sind Eigenschaften, die nicht nur auf dem Campus einer Universität gefragt sind. Wer ausstrahlen will in die Welt, muss sich bewusst sein, dass der Blick der Welt sich auch zurück auf Freiberg richten wird, auf Sachsen. Weltoffenheit will gelebt werden. Ich sehe keinen Grund, warum sich Freiberg oder irgendein anderer Ort in Deutschland diesem Anspruch verschließen sollte.
Die Aufklärung, aus der heraus diese Hochschule vor 250 Jahren entstand, vertraut der Kraft der Vernunft, sie will Vorurteile überwinden, sie glaubt an die Lernfähigkeit des Menschen. Tragen wir diesen Lichtfunken der Aufklärung weiter – auch zu denen, denen diese Erleuchtung noch fehlt.